Film und Wirklichkeit: Was dem Betrachter präsentiert wird, ist nichts anderes als filmische WirklichkeitNun verhält es sich aus filmtheoretischer Perspektive allerdings so, dass jede einmal im Film fixierte Wirklichkeit zunächst gleich viel oder weniger wert ist. Was dem Betrachter präsentiert wird, ist nichts anderes als filmische Wirklichkeit. Diese ist der vorfilmischen zwar nachgeordnet, indem sie ihr entspringt, nicht aber im Sinne einer 1:1-Abbildung. Wirklichkeit ist immer auf vielfältige und mehrschichtige Weise in Film eingegangen. In Filmen fixierte reale Ereignisse bestehen als filmische Ereignisse weiter. Zwangsläufig muss man sich also diesen filmischen Ereignissen – den Bildern (und Tönen) -, die untereinander keine Hierarchie kennen, zuwenden, um Erkenntisse über die vorfilmische Wirklichkeit zu erlangen. Sobald die Kamera auf irgendetwas gerichtet wird, stellt sich die Frage sowohl nach dem, was sie wie ‚sieht‘, als auch nach dem, was für das Kameraobjektiv nicht existiert. »Weder Spiel- noch Dokumentarfilme stellen technisch-mechanische ‚Kopien‘ der Wirklichkeit dar, sondern bedeuten aktive Reproduktion und subjektive Gestaltung, also: Interpretation einer gesellschaftlichen Realität. Die Wirklichkeit wird durch die Filmaufnahme in eine Vorstellung dieser Wirklichkeit transformiert. (…) Die Zweiteilung des Kinos in Fiktion und Dokumentation, begründet auf der filmischen Realisierung >innerer< Phantasiebilder einerseits und >äußerer< Wirklichkeitsbilder andererseits, ist also nicht aufrechtzuerhalten: Jeder Film ist Fiktion – wie jeder Film dokumentarisch ist. Was einen Dokumentarfilm oder auch einen Spielfilm zum Zeitdokument und zur historischen Quelle werden lässt, ist eben nicht in einer möglichst korrekten oder detaillierten Rekonstruktion einer gesellschaftlichen Wirklichkeit (eines bestimmten historischen Zeitabschnitts) zu suchen, sondern in der filmischen Gestaltung, d. h. Interpretation dieser. Der dokumentarische Wert des Films liegt darin begründet, wie er (in welcher filmästhetischen Form, mittels welcher Thematik und Handlung, anhand welcher Motive, in welcher Erzählhaltung und -perspektive) bestimmte gesellschaftliche Realitäten darstellt bzw. thematisiert. (vgl. Behring 1989: 8)« Fiktiven und dokumentarischen Bildern ist also gemeinsam, dass sie Abbilder der vor der Kamera befindlichen Realität und zugleich Interpretationen dieser Wirklichkeit sind. Sie unterscheidet, dass beim dokumentarisch orientierten Film in der Regel das Geschehen vor der Kamera nicht beeinflusst, beim Spielfilm auch hier gestaltend eingegriffen wird. Die Grenzen sind allerdings fließend und es gibt zahllose Filmbeispiele, die dem Dokumentarbereich zugeordnet werden, bei denen sehr wohl das Geschehen vor der Kamera ‚gestaltet‘ wurde (z. B. Filme von Joris Ivens) und Spielfilme, die dokumentarisch orientiert sind. Man kann also nicht einfach sagen, dass der Dokumentarfilm Tatsachen abbildet. Er fotografiert ausgewählte Tatsachen und montiert daraus einen Tatsachenzusammenhang. Alle übrigen möglichen Tatsachen und Tatsachenzusammenhänge werden ausgegrenzt. Dokumentar- und Spielfilm sind immer etwas Gemachtes, Zusammengesetztes, Künstliches. Man braucht ein Erkenntnisinteresse, eine Intention, um die Momentaufnahmen in einen Zusammenhang zu bringen. |
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Vom Finden und Erfinden (1988)Zwei Typen von Fotografen sind zu unterscheiden, der Finder und der Erfinder. Der Finder arbeitet „im Gehen“ nach dem Vorbild des Jägers und Sammlers. Seine Tätigkeit kann als szenisches Suchen beschrieben werden: er holt et-was aus Szenen heraus, er verhält sich perzeptuell. Der Erfinder arbeitet hingegen „im Stehen“, nach dem Vorbild des seßhaf-ten Produzenten. Seine Tätigkeit ist ein inszenisches Versuchen: er stellt etwas in Szenen hinein, er verhält sich konzeptuell. Suchen und Finden ist demnach eine naturgewandte Geste, Versuchen und Erfinden eine kulturgewandte. Zum Erfinder wird, wem sich Natur versagt. Eben dies kennzeichnet den gegenwärtigen Zustand der Fotografie: die Realität, die die Natur des Fotografen ist, hat sich ihm zu versagen begonnen. wenn aber Realität versagt, muß man sie neu erfinden. Andreas Müller-Pohle: Inszenierende Fotografie. In: FOTOVISION: Projekt Fotografie nach 150 Jahren. Bearbeitet von Bernd Busch, Udo Liebelt und Werner Oeder. Hrsg. vom Sprengel Museum Hannover 1988, S. 12 |