Vortrag von Prof. Dr. Gideon Greif und Julia Filimonova zur Geschichte und Aktualität des Antisemitismus
Aus Anlass der 80-jährigen Wiederkehr der Reichspogromnacht am 9. November 1938 kamen der bekannte israelischen Historiker Gideon Greif sowie Julia Filimonova, Verantwortliche für die Jugendarbeit der jüdischen Gemeinde im Landkreis Schaumburg, in das Gymnasium Bad Nenndorf. Vor ca. 50 Schülerinnen und Schülern des zwölften Jahrgangs referierten sie über die Verfolgung der Juden im Nationalsozialismus und die aktuelle Situation der jüdischen Gemeinden in der Region.
In seinem sehr anschaulichen und bedrückenden Vortrag skizzierte Gideon Greif, dessen deutschstämmige Familie selbst in die Mühlen des NS-Rassenwahns geriet, die antijüdischen Maßnahmen während des Dritten Reiches, die unmittelbar nach der Machtübernahme 1933 einsetzten und dafür sorgten, dass bis 1938 ca. 47% der deutschen Juden ihre Heimat verließen. Er hob zudem hervor, dass die Pläne für die Pogromnacht bereits vorlagen, als Herschel Grünspan in November 1938 auf den deutschen Botschaftsangehörigen von Rath schoss und den Nationalsozialisten so den Anlass lieferte, im ganzen Land Synagogen und jüdische Geschäfte in Brand zu stecken und Tausende zu inhaftieren. Dieser bespiellose Gewaltakt stellte den Auftakt zu weiteren, nahezu unvorstellbaren Vergehen dar, nämlich der millionenfachen Deportation und systematischen Ermordung der europäischen Juden. Letztlich wurde, so Greif, die Vernichtung der Juden zum „nationalen Interesse Nr. 1“ des nationalsozialistischen Staates, der für dieses singuläre Verbrechen unvorstellbare Ressourcen mobilisierte.
Julia Filimonova berichtete im Anschluss über Antisemitismus in der Gegenwart und ging dabei unter anderem auf die Geschehnisse an der Berliner John-F-Kennedy-Schule ein, wo ein jüdischer Schüler sich massiven Anfeindungen ausgesetzt sah. Dort hätten ihm Mitschüler Zigarettenrauch ins Gesicht geblasen und gesagt, er solle an die vergasten Juden im Nationalsozialismus denken. Antisemitische Tendenzen gibt es aber auch andernorts und so gilt das Wort „Jude“ auf vielen Schulhöfen als Schimpfwort. Julia Filimonova schilderte zudem Übergriffe, die sich im unmittelbaren Umfeld der Schülerinnen und Schüler ereigneten, und zeigte Bilder von dem beschmierten Gedenkstein für die Opfer des Holocaust in Bad Nenndorf. Auch ihre eigene Tochter wurde in der Hannoveraner Stadtbahn angegriffen, weil sie sichtbar eine Kette mit einem Davidstern trug.
Beide Vorträge beeindruckten die zuhörenden Schülerinnen und Schüler stark, was sich nicht zuletzt an den zahlreichen Fragen zeigte. So wollten die Lernenden zum Beispiel wissen, warum mit Ausnahme der Dominikanischen Republik und Shanghais die meisten Länder nur in sehr geringem Maße aus Deutschland fliehende Juden aufnahmen. Auch zeigten die Schülerinnen und Schüler ein reges Interesse am jüdischen Alltagsleben in der Gegenwart, fragten aber auch, ob Juden in Deutschland aufgrund der jüngsten Entwicklungen eine Ausreise in Betracht ziehen, was Julia Filimonova bejahte.
Letztlich zeigten die beiden Vorträge den Jugendlichen somit eindrücklich die Notwendigkeit, Zivilcourage zu zeigen und sich jeder Form von Diskriminierung entgegenzustellen. Als Vorbild können dabei die „Frauen der Rosenstraße“ dienen, auf die Gideon Greif in seinem Vortrag einging. Hierbei handelt sich um mehrere hundert „arische“ Frauen, die mit jüdischen Männern verheiratet waren. Sie demonstrierten im Februar und März 1943 über mehrere Wochen hinweg gegen die Inhaftierung – und damit bevorstehende Deportation – ihrer Ehemänner. Sie waren erfolgreich und brachten die SS zur Freilassung dieser Männer, die der NS-Ideologie zufolge in „Mischehen“ lebten.
Niels Koblitz