Geschichte unseres Seminars

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Theoria cum Praxi – so lautet das an Leibnitz angelehnte Wissenschaftsmotto für das Studienseminar seit dem Jahr 2006. Theorie mit Praxis verbinden, Theorie und Praxis im Handeln vereinen – dies ist die Aufgabe, die das heutige Studienseminar seit dem 4. Januar 1946 erfüllt. In recht prosaischer Art wurde Studienrat Dr. Seyfarth, tätig an der Oberschule für Jungen, seit 1949 Felix-Klein-Gymnasium, am 14. Dezember 1945 durch die Hauptabteilung Kultus der Provinz Hannover der Auftrag erteilt, die Seminarleitung des Bezirksseminars Göttingen für die „Kandidat(innen) des höheren Lehramts der Provinz Hannover“ zu übernehmen. Er möge geeignete Vorschläge für Fachleitungen nebst Vertretung einreichen sowie geeignete Räumlichkeiten organisieren und dies in kürzester Zeit.1
Die Ausbildung im Studienseminar begann pünktlich, einen formalen, institutionellen Rahmen schuf erst eine Sondertagung in Bad Godesberg am 27.7.1946. Hier wurde, von Theoretikern und Praktikern, über Studienordnung, pädagogische Vorbereitung und die Prüfungen für das Lehramt an höheren Schulen diskutiert, Ausschüsse wurden organisiert und erste Beschlüsse gefasst: Oberstudiendirektoren, Oberschulräte, Regierungsdirektoren, Professoren sowie Minister Grimme, der Dr. Seyfarth beauftragt hatte, gaben so der Ausbildung einen ersten Rahmen, der natürlich dem britischen Zonenrat vorzulegen und von diesem zu genehmigen war.
Inhaltliches blieb dabei zunächst weitgehend außen vor; im Allgemeinen wie im Speziellen, also auch im neu gegründeten Bezirksseminar, ging es zunächst um eine Neuorientierung nach dem 2. Weltkrieg. Die inhaltliche Schwerpunktsetzung erfolgte in den Fachseminaren, was durch das erhaltene Protokoll2  zur Seminarsitzung für das Fach Philosophie vom 14. Februar 1946 dokumentiert ist. Darin geht es, aufschlussreich für diese Zeit, um Kants Auffassung von der Würde des Menschen. Nicht kritisch gegenwartsbezogen, aber immerhin problemorientiert diskutierten die SeminarteilnehmerInnen über die Aufgabe des Staates und der Lehrenden, um den Menschen mündig, „das heißt selbständig“ zu machen. Theorie und Praxis verbinden sich im fachinhaltlichen wie im pädagogischen Bereich, wenn Seminarleiter Dr. Seyfarth zur „Erläuterung und praktischen Anwendung“ aus pädagogischer Literatur zitiert „Du sollst nicht sagen: Das Schülermaterial.“3 Heutzutage mag dies eher amüsant erscheinen, in Anbetracht der noch jungen Geschichte erhält das Zitat jedoch einen eigenen, ernsten Tenor.

Dr. Friedrich Seyfarth leitete das Seminar bis 1950 und wechselte dann in die staatliche Verwaltung höherer Schulen in Hannover. Von 1950 bis 1976 (!) oblag die Leitung Dr. Peter Biesterfeld. Die
wechselvollen Jahrzehnte spiegeln sich in der Akzentuierung der Ausbildung wider: Es ging um die Ergänzung der wissenschaftlichen Ausbildung an der Universität, die Didaktiken von Klafki und – in Abgrenzung dazu – Heimann-Otto-Schulz und dann um die Reform des deutschen Bildungsrates. In den Jahren von 1976 bis 1995 war Dr. O.-H. Vehrenkamp Seminarleiter. Theorie und Praxis verbanden sich während dieser Zeit in der Betonung und Umsetzung der Bildungsreform sowie einer stärkeren Einbindung von Soziologie und allgemeiner Pädagogik. Unter der Leitung von Dr. Sigrid Vogel von 1995 bis 2009 lag der Akzent der Ausbildung auf einem konstruktivistischen Lernverständnis: auf theoretischem Input mit Handlungsorientierung und Kompetenzaufbau mit theoretischen Rückbezügen – Theorie durch Praxis bereichern stand und steht noch immer im Mittelpunkt. Frau Dr. Vogel legte damit schon sehr früh den Grundstein für die Kompetenzorientierung und die damit verbundene Modularisierung. Praktische Neuerungen ergaben sich dadurch, dass ab 2001 nicht mehr nur die städtischen Gymnasien und Gesamtschulen, sondern auch die Schulen in der „Fläche“, also den Landkreisen Göttingen, Northeim und Osterode am Harz als Ausbildungsschulen dazu kamen. FachleiterInnen mussten nun über Land fahren, wollten sie ReferendarInnen ausbilden. Zunächst kritisch betrachtet, resümierte dazu der ehemalige Schulleiter der Eichsfeld-Gymnasiums Duderstadt, Herr Dr. Warnking, zum 60jährigen Jubiläum des Seminars: „Wir Landschulmeister wissen um die evaluative Funktion dieser Tätigkeit, die alltäglich sich ereignende pädagogische Neuerung, die Vorwärtsbewegung als stille, weil strukturell implementierte Grundlage.“

Unter der Leitung von Brunhilde Juraschek ab 2009 bis 2014 wurde die konstruktivistisch begründete, konsequente Schülerorientierung fortgesetzt. Kompetenzorientierung und Modularisierung der Ausbildung wurden ebenfalls ausgeschärft, so dass das Studienseminar in diesem Bereich oft Impulse setzen konnte. Allerdings wurde auch durch institutionelle Vorgabe die Ausbildungszeit um sechs Monate verkürzt, Einstellungstermine verschoben und Prüfungsvorgaben radikal verändert. Neben der Praxis des „Ausbildens“ müssen Seminarleitung und Ausbildende immer mehr Kraft aufwenden, um bürokratische Vorgaben umzusetzen und um den Auszubildenden möglichst ideale Bedingungen zu bieten, trotz zeitlicher Verkürzung und inhaltlicher Vermehrung eine zweite Staatsprüfung gut zu bestehen. Frau Juraschek hat in der Zeit von 2012 bis 2014 den Grundstein für die Entwicklung eines Seminarprogramms gelegt und das Leitbild mitgestaltet. Auch die Abstimmung der Seminarcurricula sowie erste Schritte zur Integration ausbildungsrelevanter Bausteine für die Inklusion initiierte sie in dieser Zeit.

Seit 2015 leitet Anna-Maria Schumann das Studienseminar Göttingen. Sie widmet sich mit dem Kollegium neuen, anspruchsvollen Aufgaben, wie beispielsweise einer Standardisierung und
Synchronisierung von Abläufen, um größtmögliche Transparenz für Auszubildende und Ausbildende zu erreichen. Um die Ausbildung für die LehrerInnen im Vorbereitungsdienst zu optimieren, wird die Kooperation mit Integrierten Gesamtschulen, an denen Gesellschafts- und Naturwissenschaften in Verbundfächern unterrichtet werden, ausgeschärft und in die Praxis umgesetzt. Auch hier setzt das Studienseminar Göttingen bereits Akzente. Die Seminarlehrpläne sind nach dem Kernaufgabenmodell umgestellt, sodass eine größtmögliche Transparenz für Auszubildende erreicht und fächerübergreifende Vernetzungen befördert werden können. Seit Februar 2016 kann über das Studienseminar in Kooperation mit der Universität Göttingen die Zusatzqualifikation „Deutsch als Zweitsprache“ mit dem Schwerpunkt „Sprachsensibler Fachunterricht“ erworben werden. Hiermit kann den LehrerInnen im Vorbereitungsdienst eine weitere Möglichkeit zur individuellen Professionalisierung geboten werden. Als neue Ausbildungsschulen wurden seit 2014 die Paul-Gerhardt Schule in Dassel, die KGS Bad Lauterberg sowie das Pädagogium Bad Sachsa dazu gewonnen. Seit 2015 wird Chinesisch als neues Fach am Studienseminar ausgebildet. Die Kooperation mit der ersten Phase wird zudem durch die Beteiligung an diversen Netzwerken im Rahmen des Schlözer Programms und der Qualitätsoffensive Lehrerbildung intensiviert.

Insgesamt kann das Studienseminar auf eine ungebrochene konstitutionelle und innovative Kontinuität zurückblicken. Die kurzen Angaben zu den Schwerpunktsetzungen über die Jahrzehnte zeigen jedoch, dass die Praxis der Ausbildung keine glatte oder kontinuierliche Entwicklung war. Dies kann und darf sie auch gar nicht sein, will das Seminar dem Wahlspruch „Theoria cum Praxi“ gerecht werden, denn angesiedelt an der Schnittstelle zwischen Theorie und Praxis, zwischen Universität und Schule, steht das Studienseminar, aufgrund der vielfältigen und vielseitigen Ansprüche, die von beiden Seiten gestellt werden, auch notwendiger Weise als Institution der Innovation. Und so „… weht der Zeitgeist in einer Institution wie dem Studienseminar stetig, wenn auch nicht immer gleich“ (Dr. Warnking). Und er wird es weiter tun…

Autorin: Dr. Catherine Hauthal

Anmerkungen:

1 Über politische Zweifel, die ggf. mit Personalentscheidungen Ende 1945 / Anfang 1946 einhergingen, lässt sich leider nichts
mehr erfahren. Dass eine Personalentscheidung nicht ganz einfach gewesen sein konnte, ist leicht vorstellbar.
2 Viele Materialien, die die Geschichte des Seminars näher beleuchten könnten, sind leider einem Wasserschaden zum Opfer
gefallen, sodass die am Ende der kurzen Seminargeschichte genannten Dokumente wohl weitgehend als Originale allein stehen.
3 Zitate aus dem Protokoll der Sitzung am 14.II.1946 von Elidia Gosling.

 

Quellen:
FS-Protokoll E. Gosling, 14.2.1946
Niederschrift über die Sondertagung in Bad Godesberg am 27.7.46
Beauftragung von Dr. Seyfarth vom 14.12.1945 durch den Oberpräsidenten der Provinz Hannover
Reden zum Jubiläum 2006 von Frau Dr. Vogel, Herrn Hannemann, Dr. Warnking