Ein bewegender Blick in die Vergangenheit: Begegnung mit dem Holocaust-Überlebenden Albrecht Weinberg

Zu Beginn des neuen Schuljahres machte sich ein Teil unseres 10. Jahrgangs auf den Weg nach Leer in Ostfriesland zu einem für uns ganz besonderen Ereignis. Über den Geschichtsunterricht und die Vermittlung von Frau Kleesiek-Herding hatte sich die besondere Möglichkeit ergeben hatte, den 99jährigen Holocaust-Überlebenden Albrecht Weinberg im Gedenkort Jüdische Schule zu treffen.
Mit der Bahn und in Begleitung unserer Lehrkräfte Herrn Schniers und Frau Kleesiek-Herding ging es früh morgens nach Leer, wo wir uns zunächst mit der Gedenkstätte vertraut machten und von Frau Susanne Bracht, der Leiterin der Gedenkstätte, sehr freundlich empfangen wurden. In der ersten Schulwoche hatten wir uns intensiv auf das Treffen vorbereitet und dazu auch die Dokumentation über Albrecht Weinberg und Gerda Dänekas in der 37-Grad-Reihe im ZDF gesehen.

Wir alle waren etwas nervös, aber auch sehr gespannt, als Albrecht Weinberg dann im Veranstaltungsraum vor uns stand. Dort wurde es auf einmal sehr still. Es war spürbar, dass wir auf einen ganz besonderen Menschen treffen würden. Seine tiefgründige und erschütternde Lebensgeschichte hat Spuren in all unseren Köpfen hinterlassen.

Albrecht Weinberg, 1925 in Rhauderfehn in Ostfriesland geboren, wächst in einer jüdischen Familie auf und überlebt die Schrecken des Holocausts, darunter die Konzentrationslager Auschwitz-Monowitz und Bergen-Belsen. Albrechts Familie muss unter dem Naziterror bereits 1936 vom Land nach Leer ziehen, weil die Kinder nicht mehr die reguläre Schule besuchen dürfen. In Leer besuchen sie die jüdische Schule, heute ein Lern- und Gedenkort. Nach den Novemberpogromen 1938 werden Albrecht und seine Schwester Friedel auf das schlesische Landgut Groß Breesen geschickt. Dort vermittelte die Hachschara-Bewegung jüdischen Jugendlichen Grundkenntnisse der Landwirtschaft für die Rückkehr nach Israel. Mit einem Osttransport ab Berlin werden sie allerdings im April 1943 in das KZ Auschwitz deportiert, wo Albrecht zwei Jahre im KZ Buna/Monowitz schwerste körperliche Arbeit verrichten muss. Er überlebt drei Todesmärsche, gelangte im Februar 1945 in das KZ Mittelbau-Dora und von dort aus in das KZ Bergen-Belsen, das im April 1945 von den Briten befreit wurde.
Nach dem Krieg emigriert er 1947 mit seiner Schwester Friedel in die USA und kehrt später nach Deutschland zurück, wo er heute lebt und als wichtige Stimme der Erinnerung vor jungen Menschen spricht .

Albrecht erzählt mit klarer Stimme von seinen Erinnerungen. Manchmal greift Gerda Dänekas kurz in seine Erzählungen ein und unterstützt ihn dabei, die richtige Chronologie der Ereignisse wiederzufinden oder hakt nach, wenn unsere Fragen noch genauer beantwortet werden könnten.

Während der Deportation des 37. Osttransports aus Berlin-Grunewald in das Vernichtungslager Auschwitz verlieren sich Friedel und Albrecht aus den Augen und werden getrennt. Albrecht überlebt die erste Selektion und wird als „arbeitsfähig“ eingestuft, während von den 1000 Deportierten des Zuges 543 Menschen sofort vergast werden. Er kommt zum Arbeitseinsatz in das Außenlager Auschwitz-Monowitz.
Bevor er seine Häftlingsnummer tätowiert bekommt, trifft er zufällig auf seinen Freund Berni Wallheimer in der Registratur von Auschwitz wieder. Die beiden Jungen lachen sich an, als sie sich mit ihren kahlen Köpfen ansahen, denn während der Aufnahme
wurden ihnen die Köpfe geschoren. Die Worte des Tätowierers haben Spuren in seinem Kopf hinterlassen, sie zeigten ihnen die Realität im Lager auf: „Euch wird noch das Lachen vergehen!“ Damit beginnt die grausamste Zeit seines Lebens und aus dem Jungen Albrecht Weinberg wurde im Todeslager Auschwitz endgültig eine Nummer, die auf seinen Arm tätowiert wurde. Seine Eltern sieht Albrecht nie wieder, beide werden ermordet.

Albrechts Erinnerungen haben die sich tief in sein Gedächtnis eingegraben. Eine Passage möchten wir daher hier aus seinem Buch zitieren:
„Nach einigen Wochen in Auschwitz dachte ich kaum noch an meine Mutter und meinen Vater, kaum noch an Dieter. Ich machte mir auch kaum noch Sorgen, was wohl mit Friedel geschehen war. Zermarterte mir nicht den Kopf darüber, ob man sie ins Gas geschickt hatte oder ob sie davongekommen war.
Ich hatte keine Kraft, mir Sorgen zu machen. Ich dachte nicht an gestern oder morgen. Ich dachte ans Überleben. An ein Stück Brot. Eine Kelle Suppe vom Boden des Kessels. Ein Arbeitskommando, das nicht den Beinamen »Todeskommando« trug.
Die Tage glichen sich alle. Ich gab auf, sie zu zählen.
In eine Baracke hatte man mich eingeteilt, als ich aus der Quarantäne entlassen wurde. Ich teilte mir eine enge Pritsche mit einem anderen Mann. Ich erinnere mich nicht mehr an ihn. Aber an den Gestank in der Baracke. Schlimmer als der Schweinestall in Groß Breesen. Es mischten sich Kot, Urin, kranker Atem, Erbrochenes und Wundeiter. Es war eng, sechs von uns mussten sich jeweils ein Etagenbett teilen, dass für drei gedacht war. Wir schliefen auf fauligen Strohsäcken, in denen es vor Flöhen und Wanzen wimmelte. Viele Decken waren übersät mit Kot, fast jeder von uns litt an Durchfall. Wir besaßen nur noch die Kleidung, die wir am Körper trugen, Schuhe, einen Löffel und einen Emaillebecher, aus dem wir aßen und tranken.“

Während seiner Inhaftierung in Auschwitz trifft Albrecht zufällig auf dem Appellplatz inmitten des Infernos seinen Bruder Dieter wieder, der ihm hilft, in ein anderes Arbeitskommando zu kommen und es schafft, dass Albrecht in all dem Grauen, dem Hunger, der Schikanen, der täglichen Hinrichtungen, Appelle und Bestrafungen, wieder an die Zukunft zu denken wagt. Besonders sein Bericht über das Wiedersehen mit Dieter und dessen Überlebensratschläge an Albrecht erschüttern uns sehr.  Dieter sagte zu Albrecht: „Nimm einen Kieselstein in den Mund und dein Durst wird gestillt.“ Nur so konnte Albrecht überleben. „Ich war mehr tot als lebendig, sodass ich selbst beim Zusammenbrechen meiner Mutter nicht mehr hätte helfen können.“ Dies sind seine Worte zu seinem körperlichen und mentalen Zustand im KZ. Außerdem haben seine weiteren Botschaften uns aufgerüttelt gegen Demokratiefeindlichkeit und Antisemitismus aufzustehen und für unsere freiheitliche Grundordnung aktiv einzustehen.

Albrecht gab uns Folgendes mit auf den Weg: „Lasst euch nicht alles gefallen und sagt eure Meinung, denn wir haben es nicht gemacht!“  Wir sind emotional zutiefst gerührt und begreifen, was uns seine Worte mahnen: „Eure Zukunft sehe ich gar nicht so positiv bei all dem Leid und den politischen Bedrohungen in der Welt.“ Der Antisemitismus und Hass auf Israel sei nie weg gewesen und nehme in erschreckender Weise täglich zu. Insbesondere die antisemitischen Auswüchse in Deutschland im Zusammenhang mit dem barbarischen Massaker der Hamas auf Israel beschäftigen Albrecht sehr. „Ich verfolge sehr genau, was in Israel passiert. Ich schaue jeden Tag israelisches Fernsehen und CNN,“ erzählte uns Albrecht.

Nach seiner Erzählung fordert Albrecht uns auf, näher an ihn heranzurücken, damit er uns besser sehen und hören kann. Wir dürfen ihm ganz nahekommen, wie Kinder, die bei dem Großvater sitzen. Wir lauschen seinen Fragen und im privaten Gespräch spüren wir Albrechts Neugierde auf uns junge Menschen und auch seinen feinen Humor, den er sich bewahrt hat. Dies sind sehr innige und unvergessliche Momente mit Albrecht, den wir auch gerne duzen dürfen. Am Ende des Gesprächs gibt es für uns auch die Gelegenheit für Fotos mit ihm. Dabei zeigt er uns auch seine Nummer auf seinem Arm, die er mit dem Eintritt in das KZ Auschwitz tätowiert bekam. Ein berührender und sehr trauriger Moment für uns.

Für uns war diese Begegnung mit Albrecht Weinberg eine einmalige Chance, zahlreiche Fragen an einen Überlebenden des Holocausts stellen zu können. Dieses Erlebnis wird in unseren Köpfen bleiben wie die immer noch sichtbare Nummer auf seinem Arm, die wir am Ende des Gesprächs betrachten durften. Im Gespräch und in der Reflexion mit unseren Klassenkameraden, die wie wir an diesem Gespräch teilnehmen konnten, stellte sich schnell heraus, dass sie alle sehr dankbar für dieses einmalige Erlebnis sind. Stellvertretend für alle teilnehmenden Schüler und Schülerinnen hat Fanny Andrees aus der 10a ihre Eindrücke vom Zeitzeugengespräch so formuliert:

„Ich bin sehr dankbar, dass uns dieses eindrucksvolle Zeitzeugengespräch mit Albrecht Weinberg ermöglicht wurde. Es war sehr mitnehmend und emotional, seine Erlebnisse und Gefühle in seiner Vergangenheit von ihm persönlich zu erfahren. Insbesondere die Begegnung mit seinem Bruder im Konzentrationslager und seine ersten Erfahrungen mit Antisemitismus durch Ausgrenzung von seinen Freunden im Kindesalter empfand ich persönlich als sehr ergreifend. Dieses Erlebnis hat mich nachhaltig geprägt und seine Worte werden mir lange im Gedächtnis bleiben.“

Albrecht Weinberg ist für uns eine Legende und die Erinnerung an ihn wird unsere Zukunft prägen und beeinflussen. Seine Worte sind nachhaltig und wir nehmen seine Botschaften und Mahnungen auch mit für die Ausgestaltung der Gedenkfeier zur Pogromnacht am 9. November 2024, die in diesem Jahr in der Verantwortung unseres Jahrgangs liegt. Gemeinsam mit Herrn Schniers und Frau Kleesiek-Herding werden wir dann die Erinnerung an die ermordeten Juden Harens wachhalten.
Wir bedanken uns sehr herzlich bei Albrecht und Gerda sowie bei Frau Bracht von der Jüdischen Schule für die Bereitschaft und Unterstützung für das Gelingen dieses wertvollen Zusammentreffens in Leer. Ein herzliches Dankeschön geht auch an Frau Caroline Wille, die die Begegnung als Zeitdokument medial festgehalten hat.

Fanny Andrees, Jana Arling, Pia Flögel, Merle Heymann und Alina Specken (10a, 2024/25) und Katrin Kleesiek-Herding