„Wer aber vor der Vergangenheit die Augen verschließt, wird blind für die Gegenwart. Wer sich der Unmenschlichkeit nicht erinnern will, der wird wieder anfällig für neue Ansteckungsgefahr.“
Richard von Weizäcker
In unmittelbarer Nähe des Gymnasiums Haren liegt die evangelische St. Johannis-Kirche, die 1960 an der Stelle erbaut wurde, an der bis zur Reichspogromnacht 1938 die Synagoge von Haren stand. Eine Gedenktafel in der Kirche und ein Gedenkstein am Pascheberg erinnern daran.
Am frühen Morgen des 9. November machten sich die Schülerinnen und Schüler der Klasse 9c im Rahmen eines Unterrichtsgangs mit ihrer Geschichtslehrerin Katrin Kleesiek-Herding auf den Weg zu diesem Ort, um inne zu halten und der ermordeten Harener Juden zu gedenken. Für einige Schüler ein Ort, der ihnen im alltäglichen Geschehen noch nicht begegnet war, der aber angesichts der hier sichtbaren Namen der deportierten jüdischen Familien aus Haren etwas mehr ein Gesicht bekam. Den Jugendlichen wurde bei der Durchsicht der Daten auf den Stelen schnell bewusst, dass auch jüdische Kinder aus Haren, die genau in ihrem Alter waren, deportiert und in den Vernichtungs- und Konzentrationslagern der Nationalsozialisten ermordet wurden.
Auf Nachfrage eines Schülers, dass doch die Feuerwehr hätte eingreifen können, um die Gewaltaktion an der Synagoge verhindern zu können, wurde im Gespräch deutlich, dass die Feuerwehr den Befehl erhalten hatte, nicht in das Geschehen einzugreifen. Niemand sei an diesem Abend eingeschritten und habe die jüdischen Mitbürger Harens, die teilweise über Jahrhunderte Teil der Gemeinschaft gewesen seien, verteidigt oder beschützt. Mit der Pogromnacht sei die Gnadenlosigkeit im Vernichtungsvorhaben der Nazis offensichtlich geworden: Gewaltsame Krawalle gegen Juden in Deutschland waren erstmals in diesem Umfang organisiert und von Massenfestnahmen begleitet worden. Der vollständige Ausschluss der jüdischen Bevölkerung begann unmittelbar nach den Novemberpogromen.
Pastor Torben Rakowski, der die Schülergruppe an den Erinnerungsstelen spontan besucht hatte, zeigte anhand einer Abbildung die ursprüngliche Ansicht der Harener Synagoge. In der Phase des Neubaus der St. Johannis-Kirche, so Rakowski, sei man auch auf das alte steinerne Fundament der Synagoge sowie auf die Reste der Mikwe, das rituelle jüdische Tauchbad, gestoßen.
Einen dieser Steine halte er nun in den Händen. Dieser habe die Zeiten überdauert, fordere aber auch zur Erinnerung und Mahnung an die Ereignisse in Haren auf.
Vor der Erinnerungstafel entzündeten die Schülerinnen und Schüler im Anschluss Kerzen und verlasen die Worte Richard von Weizsäckers. Die Worte des einstigen Bundespräsidenten aus seiner historischen Rede 1984 gelten nach wie vor und erscheinen vor dem Hintergrund antisemitischer Hetze, rechter Gewalt sowie den Anschlägen von Halle, Hanau und Kassel bedrückender und aktueller denn je. Weizsäcker hatte damals der vielen Millionen Opfer von Krieg und Holocaust gedacht und zu einer bewussten Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit Deutschlands aufgerufen. Er setzte mit seinen starken Worten ein deutliches Zeichen für einen verantwortungsvollen Umgang mit der NS-Zeit und mit der Erinnerung an dieses dunkle Kapitel der deutschen Geschichte. Nur wer seine Vergangenheit kenne, könne auch die Verantwortung für Gegenwart und Zukunft tragen.
Noch vor einer Woche hatte die Schulgemeinschaft am Gymnasium Haren in einer Schweigeminute des ermordeten französischen Geschichtslehrers Samuel Paty gedacht, der in seinem Unterricht für Meinungsfreiheit und Demokratie eingetreten und von einem islamistischen Terroristen auf abscheuliche Weise getötet worden war. Auch die Worte Weizsäckers offenbarten, wie anfällig Menschen, gerade in Krisenzeiten, für rechte Propaganda, Hass und Ausgrenzungsfantasien seien. Nur zu schnell ließen sich Menschen von einer menschenverachtenden und demokratiefeindlichen Ideologie anstecken und vom Hass auf andere leiten.
Katrin Kleesiek-Herding
Fachgruppe Geschichte