ICILS 2023 – Interview mit Dr. Julia Gerick, Professorin für Empirische Bildungsforschung mit dem Schwerpunkt Schulentwicklungsforschung an der TU Braunschweig
Prof. Dr. Julia Gerick war für die Erhebungswellen 2018 und 2023 Teil des nationalen Konsortiums zur Durchführung der International Computer and Information Literacy Study (ICILS). Für BM-News hat sie sich die Zeit genommen einige Frage zur Studie und den aktuellen Ergebnissen zu beantworten. Das Interview mit Frau Gerick wurde schriftlich durchgeführt und bietet interessante Einsichten zu den computer- und informationsbezogenen Kompetenzen von Schülerinnen und Schülern in der 8. Jahrgangstufe in Deutschland sowie zur Perspektive der Lehrkräfte. Die Teilnahme an der Studie ist in Niedersachsen für Schulen freiwillig. Es haben 15 Schulen teilgenommen, die auf Grundlage wissenschaftlicher Kriterien ausgewählt wurden.
BM-News: Guten Tag Frau Gerick! Vielen Dank, dass Sie sich heute die Zeit nehmen mit uns über die Ergebnisse der aktuellen International Computer and Information Literacy Study zu sprechen! In dieser Studie werden unter anderem die computer- und informationsbezogenen Kompetenzen von Schülerinnen und Schüler in Deutschland erfasst. Sie sind Mitglied im Nationalen Konsortium der Studie. Was sind Ihre Aufgaben und Schwerpunkte im Zusammenhang mit ICILS?
Prof. Dr. Julia Gerick: Ich freue mich sehr, sowohl in ICILS 2018 als auch in ICILS 2023 Teil des nationalen Konsortiums zu sein. Die enge Zusammenarbeit mit dem nationalen Forschungszentrum an der Universität Paderborn und dem Team um Prof. Dr. Birgit Eickelmann ist sehr bereichernd. Meine Aufgaben umfassen sowohl beratende Tätigkeiten in allen Phasen der Studie als auch insbesondere die Mitarbeit bei der nationalen Berichtlegung. Hierbei lag mein Schwerpunkt in ICILS 2023 vor allem auf dem Themenfeld Schulleitung, ich war aber im Kontext der Berichtlegung auch an anderen Themenfeldern, wie der Perspektive der Lehrpersonen beteiligt.
BM-News: Die Ergebnisse der ICILS Studie 2023 zeigen einen Rückgang bei den digitalen Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler in Deutschland. 40 % aller Schülerinnen und Schüler in Deutschland „können nur wischen und klicken“ so formulierte es Ihre Kollegin Birgit Eickelmann in einem Interview. Wie schätzen Sie die Lage der Schülerinnen und Schüler in Deutschland mit Blick auf ihre digitalen Kompetenzen ein?
Prof. Dr. Julia Gerick: Der Befund, dass ein so hoher Anteil der Achtklässler*innen in Deutschland nur über rudimentäre und basale ‚digitale‘ Kompetenzen verfügen, ist besorgniserregend. Denn es ist davon auszugehen, dass diese Jugendlichen nicht über die notwendigen Kompetenzen verfügen, um selbstbestimmt, reflektiert und kritisch an unserer sich immer stärker digitalisierenden Gesellschaft teilzuhaben und die damit verbundenen Herausforderungen zu bewältigen und Chancen zu nutzen. Dazu kommt, dass wir mit Blick auf die ‚digitalen‘ Kompetenzen systematische Disparitäten zwischen Schüler*innengruppen feststellen müssen, das heißt, dass wir in Deutschland mit Blick auf digitale Kompetenzen einen ‚Digital Divide‘ vorfinden, insbesondere nach sozialer Herkunft der Jugendlichen.
BM-News: Eine überraschende Erkenntnis aus der ICILS ist, dass sich die digitalen Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler trotz zunehmender Digitalisierung im Alltag, verschlechtert haben. Welche Ergebnisse der Studie haben Sie außerdem überrascht? Und wie sind diese zu deuten? Gab es auch positive Überraschungen in der Studie?
Prof. Dr. Julia Gerick: Ich sehe in den Studienergebnissen an verschiedenen Stellen auch positive Signale. Lehrpersonen in Deutschland nutzen häufiger digitale Medien im Unterricht als noch fünf Jahre zuvor. Auch wenn man weiß, dass es nicht auf die Häufigkeit der Nutzung, sondern die Qualität und die unterrichtliche Einbindung ankommt und man nicht von einem linearen Zusammenhang zwischen Nutzungshäufigkeit und Kompetenzerwerb ausgehen kann, stimmt dieses Ergebnis doch hoffnungsvoll, da sich hier zum einen Hinweise auf eine offenere Haltung von Lehrpersonen gegenüber dem Einsatz digitalen Medien im Unterricht zeigen und die Hoffnung besteht, dass sich durch eine häufigere Nutzung die Möglichkeitsräume erweitern, in denen qualitätsvolle Förderung ‚digitaler‘ Kompetenzen stattfinden kann. Ein weiteres positives Signal sendet aus meiner Sicht der Befund, dass Schulleitungen in Deutschland dem Thema mehrheitlich eine Priorität zuschreiben. Hier wird es zukünftig darum gehen, dass entsprechende konkrete Schulentwicklungsmaßnahmen (weiter) umgesetzt und dann auch in der Breite sichtbar und wirksam werden können. Eine weitere positive Erkenntnis findet sich aus meiner Sicht auf Ebene der Schüler*innen, denn diese betonen mehrheitlich die Bedeutung des Erwerbs ‚digitaler‘ Kompetenzen in der Schule, sodass es hier nicht an der Bereitschaft mangelt, sondern hohe Motivation vorhanden ist.
BM-News: Der Kompetenzrückgang fand vor allem an den nicht-gymnasialen Schulen statt. Warum ist die digitale Transformation des Lehrens und Lernens für diese Schulen so herausfordernd?
Prof. Dr. Julia Gerick: Die Frage nach dem Warum ist eine ganz entscheidende, aber auch sehr komplexe Frage, die nur schwer zu beantworten ist, da hier sicherlich verschiedene Faktoren zusammenspielen, wir aber noch gar nicht so viel dazu wissen, da die Befundlage hierzu eher dünn ist. Das aktuelle Gutachten der SWK, das sich mit Kompetenzen für den erfolgreichen Übergang von der Sekundarstufe I in die berufliche Ausbildung beschäftigt, hat genau die nicht-gymnasialen Schulformen in den Blick genommen und widmet sich in einem Kapitel – an dem ich mitwirken durfte – der Digital Literacy. Darin wird unter anderem konstatiert, dass ‚digitale‘ Kompetenzen in nicht-gymnasialen Schulformen nur sehr unsystematisch gefördert werden und es oftmals vom Zufall abhängt, ob eine Förderung stattfindet oder nicht. Auch fehle es an einer klaren Zuordnung von Verantwortlichkeiten und Raum in curricularen Vorgaben.
BM-News: Wo sehen Sie Ansatzpunkte für die Weiterentwicklung von Schule zur Förderung der digitalen Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler in Deutschland? Welche Impulse und Handlungsempfehlungen lassen sich aus der Studie ableiten?
Prof. Dr. Julia Gerick: Aus meiner Sicht ist zunächst die (Weiter-)Entwicklung von kompetenzförderlichen Lernsettings und zukunftsfähigen Unterrichtskonzepten zur Förderung ‚digitaler‘ Kompetenzen und ihre Evaluation entscheidend. Dabei kommt es aber darauf an, dass diese in systematische und datengestützte Schulentwicklungsmaßnahmen, die auch von außen unterstützt und begleitet werden, eingebettet ist. Flankiert werden sollte dies durch eine flächendeckende und kompetenzorientierte Aus-, Fort- und Weiterbildung von Lehrkräften, um ihre eigenen digitalen Kompetenzen zu fördern, aber auch die Vermittlung dieser sowie Kompetenzen zur Mitgestaltung der digitalen Transformation in der Schule zu stärken. Ich bin gespannt, welchen Beitrag die in Kürze zu erwartenden Ergebnisse des BMBF-Kompetenzverbunds lernen:digital hier leisten können. (https://lernen.digital/)
BM-News: Welche Rolle kommt den Schulleitungen für die Entwicklung des Lehrens und Lernens in einer digitalen Welt zu?
Prof. Dr. Julia Gerick: Eine sehr große Rolle! Schulleitungen können Initiator*innen, Ermöglicher*innen und (Mit-)Gestalter*innen der digitalen Transformation in Schulen sein. Ihre Haltungen und Überzeugungen sind maßgeblich dafür, ob und wenn ja wie schulische Entwicklungsprozesse mit dem Ziel der Förderung ‚digitaler‘ Kompetenzen von Schüler*innen sowie Professionalisierungsmöglichkeiten für Lehrpersonen auf den Weg und vorangebracht werden. Allerdings muss an dieser Stelle auch darauf verwiesen werden, dass die Handlungsspielräume von Schulleitungen in Deutschland mit Blick auf die Schaffung von Rahmenbedingungen für das Lehren und Lernen mit digitalen Medien – insbesondere im Vergleich zu vielen anderen Ländern – begrenzt sind. Auch das zeigen die Befunde aus ICILS 2023. Gerade hier wird aus meiner Sicht die hohe Relevanz des weiteren Ausbaus von Vernetzungs- und Supportstrukturen auf verschiedenen Ebenen deutlich sowie die Notwendigkeit, dass Schulträger und Schulaufsicht (mit) Verantwortung und Zuständigkeiten übernehmen, um die digitale Transformation in der schulischen Bildung gemeinsam zu gestalten und voranzubringen. Neben vielen anderen haben wir als Team mit Prof. Birgit Eickelmann, Prof. Uta Hauck-Thum und Prof. Kai Maaz die Bedeutung dieses Aspekts auch im Navigator BD stark gemacht.
BM-News: Die ICILS-Daten bieten weiterhin die Möglichkeit, Antworten auf spannende Fragen zu finden. An welchen weiteren Fragen arbeiten Sie gerade im Zusammenhang mit den ICILS-Daten?
Prof. Dr. Julia Gerick: Der reiche Datenschatz von ICILS 2023 bietet ganz viel Potenzial für vertiefende Analysen in den nächsten Monaten und Jahren, sowohl mit Fokus auf nationale als auch international vergleichende Fragestellungen. In verschiedenen Konstellationen, u. a. natürlich auch mit dem ICILS-Team der Uni Paderborn, arbeite ich mit meinem Team an der TU Braunschweig aktuell insbesondere an Fragestellungen mit Blick auf die Lehrpersonenperspektive u. a. zu selbsteingeschätzten Kompetenzen von Lehrpersonen, ihren digitalisierungsbezogenen Kooperationsaktivitäten sowie Einstellungen und Haltungen zu digitalen Medien im internationalen Vergleich sowie an vertiefenden Fragestellungen zum Schulleitungshandeln und ihrer Relevanz für die Förderung ‚digitaler‘ Kompetenzen. Dadurch, dass es sich bei ICILS 2023 um den dritten Studienzyklus handelt, gibt es zudem erstmalig die Möglichkeit, einen Zeitraum von 10 Jahren und damit verbundene Entwicklungen zu untersuchen. Dieses Potenzial werden wir ganz sicher in vertiefenden Analysen aufgreifen.
BM-News: Vielen Dank für Ihre Zeit und die interessanten Einblicke in die Studie! Wir wünschen ihnen alles Gute für die Zukunft!
le, 15.12.2025
Links
https://swk-bildung.org/content/uploads/2025/03/SWK_2025_Gutachten-Sekundarstufe-I.pdf
ICILS-2023-Berichtsband: https://www.waxmann.com/shop/download?tx_p2waxmann_download%5Baction%5D=download&tx_p2waxmann_download%5Bbuchnr%5D=4949&tx_p2waxmann_download%5Bcontroller%5D=Zeitschrift&cHash=f2ac5ac3a3b99fd7eb659f7214285619

