Erfahrungsbericht eines Lehrers
Schlaftrunken taste ich nach dem Wecker. „Hätte der nicht schon längst klingeln müssen?“, frage ich mich irritiert. Der Wecker in meiner Hand zeigt mir viertel nach sechs an. Ach ja, da war doch was! Seit dem 16. März ist die Schule geschlossen. Die Corona-Pandemie hat nun auch Niedersachsen und Damme im Griff. Ich dreh mich um und versuche noch einmal einzuschlafen, aber an Schlaf ist nicht mehr zu denken. Mist! Die innere Uhr ist unerbitterlich im Schulmodus. Ich stehe auf und wandle in die Küche. Kurze Zeit später sitze ich mit einer dampfenden Tasse Kaffee vor dem Rechner. Mal schaun, was die Schüler so machen. Da gibt es Fragen zu Aufgaben. Der eine hat die Materialien nicht mehr, die ich im Unterricht noch ausgeteilt hatte. Also einscannen und per Mail verschicken. Eine andere möchte noch etwas zur Aufgabenstellung wissen. Aber es gibt auch schon Ergebnisse zu gestellten Aufgaben, als Textdokument gut lesbar – die Luxusfassung sozusagen – oder das Foto eines handschriftlich bearbeiteten Arbeitsblattes und dann auch noch mit Bleistift und unscharf. Ich brauch noch einen Kaffee.
Nach einer kräftigen Dusche sind die Lebensgeister endlich angekommen und ich sitze mit der ganzen Familie am Frühstückstisch, was sonst nur in den Ferien oder am Wochenende möglich ist. „Was macht ihr gleich?“, frage ich in die Runde. Meine Mädel schauen mich entnervt an. „Meine Mathelehrerin hat uns einen ganzen Wochenplan geschickt und ich muss noch Spanisch und Englisch und …“, klagt die eine. Von der anderen ist zu hören, dass sie heute noch ein Bild malen müsse und eine Instrumentalstunde über Skype anstehe. Aha! Ich sehe meine Frau an, auch wir haben keine Langeweile und so sitzen wir kurz darauf alle vier an unseren Schreibtischen vor einem Bildschirm und arbeiten. Schule mal anders! Nach einer kurzen Orientierungsphase – kam die Entscheidung des Kultusministeriums doch recht kurzfristig – hatte sich der neue Tagesablauf schnell eingespielt. Im Grunde orientiert er sich am Stundenplan. Die Lerngruppen des Tages werden mit Aufgaben versorgt, Materialien werden erstellt und hochgeladen. Die Ergebnisse der Schüler werden gesichtet und die Lerngruppen oder die einzelnen Schüler erhalten eine Rückmeldung. Digitale Fortbildungsangebote machen die Runde und werden intensiv genutzt. Nach einer Woche kenne ich unseren IServ schön deutlich besser und weiß seine Möglichkeiten, Gruppen anlegen, Gruppen Aufgaben stellen, kollaboratives Schreiben etc. einzusetzen. Diese ganze Home-Office-Phase ist eine einzige digitale Fortbildung. Am Nachmittag, zuweilen auch am späten Nachmittag treffen wir uns. Nach der ganzen Schreibtischarbeit ist Frischluft und Bewegung angesagt: Bolzen im Garten, ausgiebige Waldwanderung oder ausgedehnte Fahrradtour. Das haben wir uns auch redlich verdient.
Bemerkenswert finde ich, dass die Schüler durch die Lern- und Altersgruppen hinweg zahlreich die „freiwilligen“ Lernangebote angenommen haben und auch überwiegend qualitativ gute Ergebnisse abgegeben haben. Nach 14 Tagen Unterricht am heimischen Schreibtisch frage ich mich, ob das die Schule der Zukunft ist: Jeder sitzt vor seinem digitalen Endgerät und kommuniziert nur noch über den Bildschirm. Das mag ich mir nicht genauer ausmalen wollen. Für mich gehören neben der digitalen Unterstützung das direkte Gespräch und die unmittelbare Begegnung wesentlich zum Lernen dazu. Ich mag es kaum laut sagen, aber ich vermisse meine Schüler und Kollegen.
HAN