„Ich dachte, wir sind die Generation, die keinen Krieg mehr erleben wird“
10.03.22
Triggerwarnung: In diesem Artikel werden Krieg, Flucht und psychische Gewalt thematisiert. Falls du dich damit nicht wohl fühlst, solltest du dir diesen Artikel nur in Begleitung durchlesen. Außerdem kannst du dir gerne Unterstützung bei den unten angeführten Beratungen holen¹.
Über Nacht ist alles anders – „Eine Person und die ganze Welt kann nichts dagegen tun“
Stell dir vor, du warst abends noch mit deiner Familie essen, gehst abends ins Bett und schläfst mit dem Gefühl ein, dass du morgen wie immer zur Schule gehen wirst. Alles scheint normal. Doch als du morgens von lauten Geräuschen geweckt wirst, ist alles anders. Zunächst seid ihr euch unsicher, was diese Geräusche ausgelöst haben. Ein Feuerwerk? Doch leider ist die Wahrheit viel schrecklicher: Über Nacht wurde die Stadt, in der du lebst, zerbombt.
So oder so ähnlich ging es am Morgen des 24. Februars 2022 vielen Ukrainer*innen. Über Nacht wurden viele ukrainische Städte von russischer Seite angegriffen. Ein Zustand, mit dem wohl kaum jemand gerechnet hätte. Das Leben vieler Menschen auf den Kopf gestellt – und das in nur einer Nacht. Durch die Medien wird auch hier die Situation in der Ukraine deutlich². Das Erschreckende: „Es ist eben nicht im Nahen Osten, es ist in Europa, direkt vor unserer Tür.“ Dennoch ist es nicht möglich, sich in die Lage derjenigen zu versetzen, die direkt oder indirekt betroffen sind. Wie nimmt also jemand die Situation wahr, der direkte Verwandte in der Ukraine hat?
Um dies herauszufinden, haben wir uns mit Larissa B. unterhalten, dessen Familie und Freunde in der Ukraine leben und den Krieg am eigenen Leib miterleben. Ihre Kinder besuchen das HAG.
Plötzlich Krieg – Und was dann?
„Wir sitzen den ganzen Tag vor dem Fernseher und schauen Nachrichten“, beginnt das Gespräch. Die Situation ist schrecklich: Viele Verwandte sind auf der Flucht oder versuchen, sich noch irgendwo in Sicherheit zu bringen. Bei allen stellt sich vor allem eine Frage: Möchte ich mich selbst in Sicherheit bringen und damit meine Familie alleine in der Gefahr lassen oder möchte ich bei meiner Familie bleiben, auch wenn ich mich damit selbst gefährde? Eine Frage, die sich nicht einfach beantworten lässt, dennoch innerhalb kürzester Zeit getroffen werden muss. Dass beides möglich ist, zeigt sich bei den Familien und Freunden von Larissa.
Ihr Bruder und seine beiden Söhne, welche gerade einmal 18 und 20 Jahre alt sind, dürfen die Ukraine nicht verlassen, um im Falle einer Verschärfung der Lage militärisch unterstützen zu können. Seine Frau hat sich dazu entschieden, bei ihrer Familie in der Ukraine zu bleiben. Am Tag des Angriffs (24.02.2022) haben sie sich kurzerhand dazu entschlossen, die wichtigsten Dinge aus ihrem Leben in Kiew zusammenzupacken und sich im Westen der Ukraine auf dem Land in Sicherheit zu bringen. Mit dem Gedanken, in spätestens zwei Tagen wieder Zuhause zu sein, machte sich ihr Bruder mit nur zwei Hosen und drei T-Shirts auf dem Weg. Die Entscheidung über das, was eingepackt wird, hat ihre Schwägerin überfordert: „Man packt eben nicht für einen Urlaub, man packt, um zu flüchten.“ Zum Glück war ihr Auto noch vollgetankt, wodurch sie am Nachmittag erst einmal einige Kilometer hinter sich bringen konnten, denn momentan ist es in der Ukraine nur noch möglich, 20 Liter Benzin zu tanken.
Die Familie einer Freundin hat sich für das Gegenteil entschieden: Gemeinsam sind sie ebenfalls mit dem Auto Richtung Westen gefahren, haben sich dort allerdings entschlossen, sich zu trennen. Ihr Mann wird in der Ukraine bleiben, da er nicht ausreisen darf, sie wird sich mit ihren Kindern zunächst in Polen in Sicherheit bringen. Mittlerweile ist sie mit ihren Kindern in Barsinghausen angekommen.
Ein weiteres tragisches Schicksal lässt sich am Beispiel von Larissas Cousine erkennen. Zum Zeitpunkt des Interviews saß sie bereits seit mehr als zwei Tagen mit ihren zwei kleinen Kindern in einer U-Bahn-Station in Kiew fest, um sich dort vor den Angriffen zu schützen. Larissa berichtet von einem Telefonat zwischen der Cousine und einem guten Freund, welcher in St. Petersburg (Russland) lebt: Als diese ihre Situation schildert, glaubte er ihr dies zunächst nicht. Es wird deutlich, wie viel Zensur und Propaganda in Russland betrieben wird. Er, so wie es scheint, gebildet und wie jede*r Andere auch in Russland lebend, hat auch zwei Tage nach dem ersten Angriff noch nichts von diesen mitbekommen.
Ein stetiger Kontakt zwischen Larissa und ihrer Familie und ihren Freunden besteht. „Man sitzt hier im Warmen, man sitzt in Sicherheit und fragt jeden Morgen: Geht es euch gut?“ Das Gefühl, nichts tun zu können und abwarten zu müssen, bedrückt einen. Gerade die Hilfslosigkeit und Ungewissheit ist das Schlimme. Deshalb wäre ihre Mutter, welche gerade zu Besuch in Deutschland ist und durch die Angriffe nicht zurück in die Ukraine fliegen konnte, dennoch lieber in der Ukraine – ihrer Heimat – und bei ihrem Sohn, dem Bruder von Larissa.
„Putin hat es geschafft, die Ukraine zusammenzuschweißen, indem er den Patriotismus geweckt hat“
Ähnlich wie ihrer Mutter geht es vielen – vor allem jungen Erwachsenen – Ukrainer*innen. Einerseits, um bei ihrer Familie zu sein, andererseits, um die Ukraine in der Verteidigung zu unterstützen, kehren sie aus westlichen Ländern wie Polen in die Ukraine zurück, wo sie sich der Gefahr aussetzen. Sie sind fest entschlossen, ihr Land zu verteidigen – und gefährden damit ihr eigenes Leben. Junge Erwachsene gehen auf die Straße und versuchen, ihr Land bis zuletzt zu verteidigen.
Der Gedanke, dass junge Männer, denen eigentlich alle Wege im Leben offen stehen sollten, jetzt aber im Krieg kämpfen müssen, geht ihr Nahe: „Da müssen 18-jährige kämpfen, das sind fast noch Kinder.“ Genau davon sind ihre Neffen betroffen – gerade das Abitur gemacht, das Leben steht einem offen, doch sie müssen sich darauf vorbereiten, für die militärische Unterstützung eingezogen zu werden. Die Vorstellung, unser Abijahrgang würde von heute auf morgen nicht mehr zur Schule gehen und stattdessen Molotow-Cocktails herstellen beziehungsweise darauf warten müssen, zum Kämpfen in den Krieg eingezogen werden, ist unvorstellbar. Das Leben, was nach dem Abitur gerade richtig anfängt, von einem Tag auf den anderen auf den Kopf gestellt. Doch genau das ist momentan leider die Realität für junge Ukrainer*innen.
„Juhu, Deutschland wacht auf“
Die Bundestagssitzung (27.02.2022) war ein erster Lichtblick in den trüben Tagen. Die ersten Hilfen und Sanktionen sind zumindest ein erster Schritt in die richtige Richtung. Trotzdem findet sie, dass der Entscheidungsprozess etwas zu langsam verlaufen ist. Erst am Sonntagnachmittag gab es erste richtige Reaktionen auf die Angriffe, welche sich am Donnerstagmorgen zugezogen haben: „Man hätte sich nicht so viel Zeit lassen dürfen. In der Zeit, in der hier im Warmen mit Kaffee Entscheidungen getroffen werden, sterben in der Ukraine Menschen, Zivilisten, Kinder.“ Dennoch möchte sie gerade nicht in der Haut von Bundeskanzler Scholz oder der NATO³ stecken und versteht, dass die Entscheidungen momentan keine Einfachen sind. „Um diesen Krieg zu stoppen, muss Europa sich einig sein und schnell handeln.“
Für den Umgang mit der Situation in der Schule wünscht sie sich nur eines: „Man sollte darauf achten, dass Kinder russischer Herkunft nicht benachteiligt werden oder schlecht behandelt werden.“ Es sollte auf gar keinen Fall dazu kommen, dass Hass entsteht, schließlich kann der Großteil der Menschen russischer Herrschaft nichts dafür. Doch können wir auch anderweitig helfen? Dafür haben sich in der letzten Woche einige Aktionen an unserer Schule ergeben. Zum einen werden Waffeln verkauft, dessen Erlös an die Ukraine gespendet wird. Dies findet immer mittwochs und donnerstags in den Pausen statt. Außerdem gab es in der letzten Woche eine Spendenaktion, bei der etwa drei Tonnen Lebensmittel und Hygieneprodukte gesammelt wurden. Diese werden nach Kovel, die Partnerstadt Barsinghausens, übergeben. Neben diesen Aktionen wurde auch ein Zeichen des Friedens gesetzt: Zusammen mit der LTS wurde eine Menschenkette um die gesamte Schule gebildet. Am Dienstag, 29.03. wird dies wiederholt.
von Anna-Maria W.
Das Interview wurde am 27.02.2022 geführt.
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¹ Beratungsangebote:
Wenn es euch mit der momentanen Situation schlecht geht, holt euch bitte Unterstützung. Im Folgenden haben wir euch ein paar Beratungsstellen und Personen aufgelistet, an die ihr euch wenden könnt. Ansonsten wendet euch auch gerne an das Beratungsteam unserer Schule!
– Telefonseelsorge: 0800 110111 oder 0800 1110222
– Nummer gegen Kummer: 110 111
² Weitere Informationen zu diesem Thema findest du beispielsweise unter www.tagesschau.de/thema/ukraine. Da sich die Situation stündlich oder minütlich ändert, überlassen wir das Informieren den öffentlich-rechtlichen Medien. Schaut dort gerne mal vorbei!
³ NATO: Militärisches Bündnis europäischer und nordamerikanischer Staaten.
Dieser Beitrag ist im Rahmen des Projektes “Blog einfach – mit Klartext 2.0” im 2. Halbjahr entstanden und stammt von der Schüler:innenredaktion Hannahlyse vom Hannah-Arendt-Gymnasium Barsinghausen .