Unsere Namenspatronin Elisabeth Siegel
.Sie war eine der großen Sozialpädagoginnen des vergangenen Jahrhunderts und gehörte als Professorin zu den Pionierinnen im Hochschulwesen.
1930 hatte sie bei Herman Nohl mit einer Arbeit über “Das Wesen der Revolutionspädagogik – eine historisch-systematische Untersuchung an der Französischen Revolution” promoviert und begann unmittelbar darauf ihre vielfachunterbrochene und wechselnde Lehrtätigkeit: zunächst in Breslau, Stettin und Elbing.
Schon gleich zu Beginn des Nationalsozialismus wird ihr nach nur dreijähriger Berufstätigkeit aufgrund des “Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums” gekündigt. Sie kehrt zurück an den Ort, an dem sie ihre pädagogische Neigung und Begabung entdeckte, das Kinderheim Meura.
Als Nicht-Parteigenossin und aufgrund ihrer spürbaren Distanz zum Nazi-Regime kann sie jedoch nirgends länger Fuß fassen – in Varchmin und Lauenburg erfährt sie Denunziationen; in Bremen wird sie 1937 als Lehrkraft aus dem Dienst an der “Staatlichen Fachschule für Frauenberufe” entlassen, als sie bei einer Parteiversammlung ihre ablehnende Haltung zum Ausdruck bringt.
Doch bereits damals hat sie vielerorts Freunde und Bekannte, die ihre pädagogische Arbeit und ihre Fähigkeiten zu schätzen wissen, so dass sie trotz der zahlreichen Wechsel keine lange Phasen von Arbeitslosigkeit erleben muss. Diesmal ist es Magdeburg, wohin sie als Oberin einer höheren Mädchenschule mit angegliedertem Kindergärtnerinnen-Seminar gerufen wird. Hier erlebt sie den Zweiten Weltkrieg mit seinen Schrecken und kümmert sich verantwortungsvoll um die Schülerinnen, die gegen Kriegsende evakuiert wurden und die sie dennoch alle zum Examen führen konnte.
Die Zeit nach dem Untergang des Nationalsozialismus stellt endlich die gestalterischen Herausforderungen an Elisabeth Siegel, die ihrer Begabung und ihrem Engagement angemessen sind. Sie wird vom Niedersächsischen Kultusministerium nach Hannover gerufen, um am Aufbau des neuen pädagogischen Systems, insbesondere der Ausbildung in sozialpädagogischen Berufen, mitzuwirken.
Schon 1946/47 übernimmt sie eine Professur in Lüneburg und darauf in Celle. Der Umzug der “Adolf-Reichwein-Hochschule” von Celle nach Osnabrück bringt Elisabeth Siegel in die Stadt, in der sie nun nach ihrem bis dahin unruhigen Leben – mit 13 Berufsanstellungen und 36 Untermietverhältnissen, wie sie selbst einmal resümierte (“Ortswechsel ist bekömmlich” E.S.) – bis zu ihrem Tode lebt.
In diesen Jahren ihrer akademischen Lehre wirkt sie mit an der Formung und Gestaltung einer modernen Sozialpädagogik. Sie betont die Wichtigkeit sozialpädagogischer Anteile im Lehramtsstudium und verwirklicht im “sozialpädagogischen Praktikum” ein Modell zur Integration von Schul- und Sozialpädagogik. Zugleich pflegt sie immer den Austausch mit der sich entwickelnden und organisierenden praktischen Sozialpädagogik.
Die politische Dimension tritt in ihrem Leben und Beruf dann immer stärker in den Vordergrund. Zwar sagt sie, dass sie bereits als Oberschülerin während der Zwangsarbeit in einer Munitionsfabrik 1918 “politisch geimpft” wurde, ihre politisch aktivste Phase begann aber erst nach der Emeritierung im Jahr 1969 – im Alter von 68 Jahren. Sie tritt in die SPD ein, der sie zeitlebens nahe gestanden hatte, und engagiert sich in der Friedensbewegung. Bei politischen und kulturellen Veranstaltungen ist sie bis ins hohe Alter präsent. Ihre resolute und markante Stimme ist in Diskussionen um soziale Fragen immer wieder zu vernehmen. Bis zum Alter von 100 Jahren erreicht sie diese Veranstaltungen mit dem öffentlichen Bus ohne Begleitung.
Ihre Heimatstadt – wenn man Osnabrück nach den fast 50 Jahren des Lebens und Wirkens in dieser Stadt so nennen darf – überreichte ihr in Anerkennung ihrer Verdienste die Justus-Möser-Medaille; das Land Niedersachsen verlieh ihr den Niedersächsischen Verdienstorden. Anlässlich ihres hundertsten Geburtstages wurde durch die Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Frauen der Elisabeth-Siegel- Preis gestiftet, der zukünftig an Frauen vergeben wird, die sich in besonderer Weise für die demokratische Kultur der Stadt Osnabrück einsetzen. Die Stiftungsurkunde wurde Elisabeth Siegel anlässlich ihrer Geburtstagsfeier im voll besetzten Friedenssaal des Rathauses überreicht. Ihre Biographin Edda Hattebier stellte nach zahlreichen Interviews, die sie im hundertsten Lebensjahr von Elisabeth Siegel durchführte, die Schrift “Lehren für das Leben” rechtzeitig für die große Feier fertig. Anne Frommann, ihre langjährige Freundin, machte den Tag durch ihre liebevollen und ehrenden Worte zu einem festlichen Ereignis, in dem das Leben von Elisabeth Siegel, das parallel zum vergangenen Jahrhundert verlief, lebendig wurde.
…(Sie) trug in den 33 Jahren nach ihrer Emeritierung noch durch Veröffentlichungen und zahlreiche mündliche Beiträge zur Diskussion um pädagogische und soziale Fragen wichtige Gedanken bei. Sie schaltete sich in das aktuelle Geschehen immer wieder ein. …
zitiert aus dem Nachruf Elisabeth Siegel (aus: Deutsche Gesellschaft für Erziehungswissenschaft, Heft 25)