Mathematik

Mathematics is a way of thinking, not a collection of facts

„Wie viele Zahnärzte gibt es in Deutschland?“ Das soll eine Mathematikaufgabe sein? – Vermutlich können Sie sich in die anfängliche Irritation der Kinder hineinversetzen. Doch die Schülerinnen und Schüler der Klasse 6ku lassen sich herausfordern. Nach kurzer Zeit sprudeln die Gedanken: Wie oft gehe ich zum Zahnarzt? Wie viel Zeit nimmt er sich für mich? Wie viele Menschen leben in Deutschland? Wie lange arbeitet ein Zahnarzt? Oder sollten wir ein Telefonbuch zu Hilfe nehmen? Alle Informationen werden in der Gruppe gesammelt und abgewogen. Sie werden logisch verknüpft und führen schließlich zu einer Lösung.

Die Aufgabe des Mathematikunterrichtes ist, den Kindern das richtige Rechnen beizubringen. So oder so ähnlich ist wohl die landläufige Vorstellung gespeist aus der Erinnerung an die eigene Schulzeit. Wollen wir jedoch eine Aufgabe wie die obige lösen, brauchen unsere Kinder mehr als das Wissen um die Grundrechenarten. Sie brauchen Kompetenz. Kompetenz heißt, dieses Wissen anzuwenden, es zu übertragen auf eine Fragestellung des Alltages, es einzubauen in die eigene Gedankenwelt. Die Kinder sollen lernen, ihr Verständnis von den Zahlen als Werkzeug zu benutzen, um sich die Welt zu erschließen.

Wenn die Grundschüler zu uns kommen, haben sie bereits eine immense intellektuelle Leistung erbracht. Sie haben sich den Zahlenraum erschlossen mit einer vagen Vorstellung, dass er nach oben unbegrenzt ist. Sie haben die anschaulichen Vorstellungen von Zusammenfassen, Wegnehmen, Vervielfachen und Aufteilen jeweils als eine Verknüpfung von Zahlen abstrahiert. Sie mussten erfahren, dass man durch Rechnen beliebig viele neue Zahlen erzeugen kann, dabei aber trotzdem mit zehn Zeichen zur Benennung einer beliebig großen Zahl auskommt. Wer dass für Kinderkram hält, sollte die 10 Ziffern durch Buchstaben ersetzen und dann versuchen im Hunderterraum zu rechnen.

Die Konstruktion solch eines Wissens und die Anforderung an die Kompetenz des sicheren Rechnens gelingt den Kindern unterschiedlich gut. Lernen heißt Weitergehen auf seinem Weg, da verläuft man sich manchmal und wenn man nicht mehr weiter weiß, kann Angst aufkommen. Auch wenn wir Enttäuschungen und Misserfolge zwar vermeiden aber nie ausschließen können, halten wir jedoch Angst für den schlechtesten aller Lehrer. „Die Zahlen sind meine Freunde“ heißt der Wahlspruch, er soll den Kindern Mut machen. Wir Lehrerinnen und Lehrer wollen dabei helfen, dass diese Freundschaft gelingt.

Wissen wird nur wirksam in Kommunikation mit einem Gegenüber. Die Kinder müssen sich über ihre Gedanken mitteilen können. Sie brauchen einen Spiegel, um zu überprüfen, ob wir eine gemeinsame logische Sprache sprechen. Mathematik erschöpft sich nicht im Einüben von mehr oder weniger vorgegebenen Techniken. Die Kinder brauchen Raum, um eigene Lösungswege zu entwickeln und sie der Klasse oder der Arbeitsgruppe mitzuteilen. Sie werden so ermuntert, eigene Überlegungen zu formulieren ohne Besorgnis, sich bloß zu stellen. Fehler sind wichtig beim Lernen, sie regen an, eigene Gedanken zu überprüfen und sie gegebenenfalls zu korrigieren.

Schule soll das Selbstbewusstsein der Schülerinnen und Schüler stärken. Sie sollen lernen, sich zu präsentieren mit dem, was sie können, was sie gelernt haben. Wie wichtig die Theater- und Musikvorführungen für unser Schulleben sind, braucht nicht betont zu werden. Dass auch eine Matheaufgabe ziemlich lustig sein kann, darf man manchmal bei unserem „Forum“ erleben, das regelmäßig für die fünften und sechsten Jahrgänge stattfindet. Wer zum Beispiel weiß, wie viele kleine Mädchen in einen Umzugskarton passen, wie vielen Flaschen Cola das entspricht und wie man das rauskriegen kann, ohne dass ein Tropfen fließt? Man kann sogar seine Mathenote durch eine gute Performance verbessern. In unserem fächerübergreifenden Projekt über platonische Körper sollen die Kinder des sechsten Jahrgangs zum Abschluss einen Gruppenvortrag halten anstelle einer Klassenarbeit.

Und doch bleibt die Frage: Wozu das alles? Die Anzahl der Zahnärzte, das steht doch irgendwo im Netz und überhaupt: „Bruchrechnung, Binomialverteilung, Satz des Pythagoras und Kosinus, das brauch ich doch nie mehr im Leben.“ Das mag vielleicht sogar richtig sein und der Verzweckung des Lernens etwa in der Form: „Du musst die Winkelfunktionen jetzt lernen, damit du sie später kannst, wenn Du am Ende doch noch Maschinenbauingenieurin werden willst.“ wollen wir schon gar nicht das Wort reden. Mathematik ist eine Art und Weise zu denken. Man könnte auch sagen, sie ist eine Art von Erbe, das uns die Männer und Frauen hinterlassen haben, die sie entwickelt haben, um sich die Welt zu erschließen. Sie haben die Mathematik benutzt, um im Mittelalter große Kirchen zu bauen, um zu fremden Kontinenten und Planeten zu navigieren, um Flugzeuge und Computer zu bauen. Wer könnte dieses Erbe bewahren, wenn nicht unsere Kinder?

Text: Andreas Praetsch